Die hellblaue Einladungskarte liegt genau im Blickfeld auf meinem Schreibtisch im Büro. Das gleisende Mittagslicht draußen lässt die Frau im Türrahmen noch dunkler erscheinen als sie ist. Ich bitte sie einzutreten, ängstlich kommt sie näher, legt ein vielfach zerknittertes Blatt Papier mit verwischtem Stempel genau auf das himmelblaue Ding. Nichts mehr zu sehen von der weißgestanzten Lilie auf zartem Blau. Ich weiß auch so, was drinsteht. Eine Bank feiert sich und ihr 20jähriges Bestehen, stilecht in einem der teuersten Hotels in Colombo, Beginn 19:30 Uhr, Kleiderordnung: Festlich. 2008, in einer schweren Krise, ausgelöst durch den Zusammenbruch des Finanzimperiums der Celinco-Group, habe ich dieser Bank geholfen, man erinnert sich also noch. Schön, dass man an mich gedacht hat, auch wenn ich ganz sicher nicht hingehen werde, zu weit ist diese Welt inzwischen von der meinen entfernt.
Ich höre immer wieder, dass sich Colombo in den letzten Jahren gewaltig verändert hat, die Börse boomt, den Banken scheint es auch wieder gut zu gehen. Nach den Finanzströmen aus China unter Mahinde Rajapakse trauen sich unter dem neuen Präsidenten offensichtlich wieder Investoren aus Europa und Amerika nach Sri Lanka. Die Stadt, die ich vor allen Dingen wegen der vielen aus Sicherheitsgründen gesperrten Straßen in Erinnerung habe, stöhnt heute unter der Masse des sichersten Indikators des Wohlstandes, dem Auto. Mein Gott, sieben lange Jahre ist es her, dass ich dort war, damals war noch Bürgerkrieg. Dass ich so selten in die Hauptstadt fahre, liegt nicht in erster Linie an der Entfernung: 200 Kilometer, Fahrzeit zwischen fünf und acht Stunden, je nach Tages- bzw. Nachtzeit. Ich mag Großstädte nicht, Menschenmassen, Blechlawinen, Luxustempel, Versicherungs- und Bankpaläste, die Hetzerei, der Gestank, der abgeschirmte Luxus neben nacktem Überlebenskampf, all das ist mir ein Greul. Betrete ich eine der nun auch hier mehr und mehr aus dem Betonboden schießenden Shoppingmiles, fühle ich mich verloren, absolut fehl am Platz unter all den eilenden, schwatzenden, tütenschleppenden Menschen. Mich verwirren all die Dinge, die hier angeboten werden und die alle nur eines gemeinsam haben: Ich brauche sie nicht, nicht mal geschenkt. Sieht so inzwischen auch Colombo aus? Expräsident Mahinde wollte ein zweites, nein ein besseres, moderneres Singapur schaffen, Glitzerzentrum seiner Trauminsel Sri Lanka, was im Weg war, musste weg. An viel Schönes kann ich mich dort eh nicht erinnern. Urbanisierung ist wohl der Weg dieser Welt, ich muss ihn ja nicht mitgehen.
Ich liebe die mächtigen Bäume, die sauberen Wasserläufe, dieses unerschöpfliche Grün in zahllosen Abstufungen, diese letzten Rückzugsgebiete der Natur und ich bin dankbar und auch ein bisschen stolz, dass ich meinen Beitrag leisten darf, diese Welt zu beschützen. Aber es gibt auch eine Schattenseite. Viele der Menschen hier leben von der Landwirtschaft und obwohl alle Menschen letztlich durch die Arbeit der Bauern leben, werden die schlecht bezahlt, sehr schlecht. Mit dem Tee Sri Lankas etwa werden viele reich, ganz sicher aber nicht die Menschen, die ihn pflücken.
Mit dem morgendlichen Besuch dieser Frau platzen all die ungelösten Probleme, all das Elend und die Ungerechtigkeit einer Mehrklassengesellschaft im Büro des Kinderdorfes Mahagedara zusammen. Klar ist: In meinem Leben ist längst kein Platz mehr für Partys und Prunk, ich habe mich vor mehr als 15 Jahren entschieden.
Ich nehme den schmutzigen, zerknitterten Brief, ein amtliches Dokument eines Bürgermeisters der folgendes bestätigt:
Frau S. wurde am 22. März 1989 geboren, der Vater verlies die Mutter noch vor der Geburt, also vaterlos. Ein schlimmer Makel! Am 3. August 2003 kam ihre Tochter S. zur Welt, auf deren Geburtsurkunde ein Vater eingetragen ist, der aber 2009 starb.
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2015: Sri Lankas Aufschwung und das Kinderdorf Little Smile„Wo kommen denn die Kinder her?“Stopp! Geboren 1989, Geburt der Tochter 2003, minus 9 Monate Schwangerschaft, also wurde diese Frau 2002 geschwängert, war da ein 13jähriges Kind. Warum interessiert das niemand, auch nicht in den zahlreichen Kinderschutzbehörden, die es auch damals schon gab?
Weiter: Am 30. März 2012 wurde der Sohn R. geboren, kein Vater. Der machte sich nämlich aus dem Staub, als Frau S. im vierten Monat schwanger war. Zuflucht bei der Mutter, die sich um die Kinder kümmerte, während Frau S. in Colombo als Hausmädchen arbeitete und dabei so wenig verdiente, dass sie kaum was zur alten Mutter schicken konnte. Als die dann 2013 starb, weil sie sich keine Medizin leisten konnte, kehrte Frau S. in ihr Dorf zurück. „Wovon sie und ihre Kinder dann lebten?“ Schweigen, den Kopf gesenkt. Die kleine S. ist 12, sieht aber älter aus, ist bereits ein sogenanntes Big Girl, sie hat also schon ihre Regelblutungen. Die Mutter weiß, dass sie ihre Tochter nicht beschützen kann, in den Dörfern der Teeplantagen sind vaterlose Mädchen Freiwild. Sie hat es am eigenen Leib erlebt, wurde als Kind Mutter. Was danach folgte war ein Leben, das eher einer Hölle glich. Sie hatte und hat denkbar schlechte Voraussetzungen: Geboren ohne Vater, dadurch schon ausgegrenzt, nur 4 Klassen Schulbesuch, sodass ihr sogar das Lesen und Schreiben schwer fällt. Ihr erster Mann hat ständig getrunken, sie schon während der Schwangerschaft geschlagen. Ein zweites Kind hat er ihr aus dem Leib getreten. Der billige Alkohol machte ihn zum Teufel und brachte ihn mit gerade mal 30 Jahren geradewegs in die Hölle. Frau S. glaubt an Gott und den Teufel, seit sie damals von einer Freikirche Geld bekam, um vom Hinduismus zum wahren Glauben zu wechseln. Doch der neue Gott half ihr auch nicht. Als Witwe mit Kind gab es für sie in der tamilischen Gesellschaft der Teeberge keinen Platz, ohne Beschützer, ohne Mann. Doch der Zweite war nicht besser als der Erste, auch er trank und prügelte. Als sie wieder schwanger wurde, warf er sie aus dem Haus, aus seinem Haus. Letzter Ausweg war dann das Zimmer der Mutter, aber die ist jetzt tot. Und so hat sie auch den einzigen Zufluchtsort für ihre Tochter verloren.
All das steht nicht in dem offiziellen Dokument, verbirgt sich mehr oder weniger deutlich jedoch hinter den traurigen Fakten und bricht langsam und stockend, Stück für Stück aus der Frau, die wie ein Häufchen Elend vor mir sitzt. Längst sind wir auf der Terrasse vor dem Büro, wo in der Regel solche Gespräche stattfinden. Das Mädchen habe ich zum Spielen geschickt, die Tränen der Mutter würden sie nur verwirren. Längst müsste ich runter zur Kapelle, es ist Sonntagmorgen, die Kinder warten, zudem ist heute ein besonderer Tag. Wie viele solche Geschichten habe ich hier schon hören müssen und vieles später bei der Überprüfung vor Ort bestätigt gefunden. Mädchen, die schwanger werden, ohne jede Bildung dem Mann ausgeliefert, verachtet und geschlagen. Ein Ehemann der sich tot säuft oder einfach verschwindet. Das ist der Stoff aus dem Alpträume gewebt sind, aus denen es für diese Frauen nur selten ein Erwachen gibt. Ich blicke die Frau an, sie sieht weiter auf den Boden. Und wie kommt sie nun hierher? Ein entfernter Verwandter habe sie in ein Büro in der Provinzhauptstadt Badulla gebracht. Nichts weiß sie davon, dass er Provision kassieren wird, wenn sie erst mal im Zielland ist, nichts weiß sie von all dem Geld, dass diese Firma an ihrer Arbeit zu verdienen hofft. Frau S. weiß nur, dass sie 100.000 Rupees bekam für einen Daumenabdruck und dafür, dass sie auch dahin geht, wo bereits viele Frauen aus dem Dorf sind. Die umgerechnet etwa 660 € hat sie freilich nicht einmal gesehen, die bekam der Mann, der das Geschäft eingefädelt hatte und dem sie noch mehr Geld schuldet. Frau S. wird in drei Tagen nach Saudi-Arabien fliegen, um dort zu arbeiten. Was sie tun muss, wohin die Reise genau geht, sie hat keine Ahnung. „Wieviel Sie verdienen wird?“ Auch das weiß sie nicht und auch nicht, dass die Agentur zuerst ihre Auslagen zurückholt, Pass, Visa, Flug, Einweisung und das mit fettem Aufschlag. Frau S. weiß eigentlich sehr wenig. Und wenn ich ihre Tochter nicht aufnehmen kann, was wird sie dann tun? Auch das weiß sie nicht, blickt mich zum ersten Mal an, verwirrt und bittend. Ich telefoniere mit unserem Pförtner. „Ja vor unserem Tor steht ein Three Wheeler mit zwei Männern“. Frau S. wird Ihnen nicht mehr entkommen, sie ist bares Geld wert, ist wie so viele Frauen, die aus Sri Lanka in den Mittleren Osten, nach Malaysia oder Singapur „vermittelt“ werden, nun Investitionsobjekt, das Rendite abwerfen wird, wenn sie erst dort ist und arbeiten muss. Ihr nur dreijähriger Sohn ist kein Problem mehr, für den kleinen Jungen fand sich schnell ein kinderloses Ehepaar. 20 000 Rupees, umgerechnet 130 € bekam sie dafür, dass sie alle Rechte abgetreten hat, ihn nie wiedersehen darf. Das war bereits kurz nach der Geburt. Sie tröstet sich noch heute damit, dass er es dort besser haben wird. Doch die 12jährige Tochter ist noch im Weg, der Flieger geht in drei Tagen, ist bereits bezahlt und wartet nicht. Auch das hat Frau S. unterschrieben. Sie haftet für all die Ausgaben, ein Jahreslohn in Saudi-Arabien, hier für sie unbezahlbar. Ich rufe Luxmi. Die 27jährige ist seit 14 Jahren im Kinderdorf, zuerst selbst als Kind danach als Auszubildende und seit 5 Jahren als Chefin in unserem Nähzentrum und als Betreuerin. Sie ist sehr einfühlsam, ruhig und klug. Ich bitte sie, den Schulstand der 12jährigen zu überprüfen. 20 Minuten später werden meine Befürchtungen wahr. Obwohl die Mutter eine Schulentlassungsurkunde für die 5. Klasse vorlegt, kann das Mädchen weder lesen noch schreiben und kennt den Zahlenraum nur bis 10. Ich spüre, ihre Mutter kann sie nicht mehr mitnehmen, selbst wenn sie das möchte. Andere haben die Entscheidungen für Sie übernommen, machen aus dem, was eine Geburt ohne Vater, eine Schwangerschaft in der Kindheit, zwei gescheiterte Ehen, zahllose Männer, Prügel und Demütigungen übrig gelassen haben, so viel Geld wie nur möglich. Selbst wenn wir sie aus dieser Falle rauskaufen würden, ihr Arbeit und zusammen mit ihrer Tochter einen Ort zum Leben geben würden, vorausgesetzt die andere Seite würde sich drauf einlassen, sie würde neue Täter anziehen, bald wieder einen neuen Mann haben, der sie misshandeln und ausnützen würde. Wir haben das bereits wiederholt versucht, nie gab es ein Happy End. Ich bin traurig und wütend, wie so oft, wenn ich erlebe, besser erleide, wie Menschen mit Menschen umgehen, wie viele Chancenlose es doch gibt, jenseits der Fassade des Touristenparadieses Sri Lanka, besonders Frauen und ganz besonders in den Dörfern der Tee-, Zucker- und Gummiplantagen. Vielleicht, ja vielleicht schaffen wir es ja, dass es bald eine Chancenlose weniger gibt. Die Chancen dafür stehen für die 12jährige nicht besonders gut. Ich weiß, es ist unmöglich, in der staatlichen Tamilenschule ihre Defizite aufzuholen und selbst wenn wir etwas finden, was sie lernen kann, der Makel ohne Vater geboren zu sein wird sie ihr ganzes Leben verfolgen. Aber wer weiß, vielleicht ändern sich ja doch die Vorurteile in Sri Lanka, irgendwann bevor sie erwachsen ist.
Vor langer Zeit, mir scheint es eine Ewigkeit, hat mich ein Zitat über Hoffnung sehr beeindruckt:
„Hoffnung ist nicht die Überzeugung, dass etwas gut ausgeht, sondern die Gewissheit, das etwas Sinn hat, egal wie es ausgeht“. Es ist Sonntagmorgen, der 21. Juni, kurz nach 9 Uhr am Morgen. Ich nehme die Kleine bei der Hand, die sie mir bereitwillig gibt, sie dreht sich nicht einmal um zu ihrer Mutter, die nun die Papiere unterschreiben wird, mit Fingerabdruck. Wir gehen durch das große Gelände runter zu unserer Marienkapelle. Schon von weitem hallt mir von dort ein freudiges „Happy Fathersday“ entgegen. Senitha hat ab heute ein Zuhause, einen Vater und genau 100 Geschwister. |