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ABSCHIED NEHMEN – LOSLASSEN – WEITER LIEBEN

Der fast volle Mond taucht die Welt um mich herum in ein Licht, das Farben erzeugt, die keine Kamera, kein Maler, kein Wort beschreiben kann. Ich brauche keine Beschreibung für diese Welt, ich habe sie geschaffen, kenne jeden Baum, die meisten von mir gepflanzt, jeden Stein, die meisten zu Mauern, Straßen, Häusern zusammengefügt. Die Geräusche der Nacht, friedlich, nur entfernt im Nachbardorf Udumulla bellen einige Hunde. Die Umrisse von den beiden oberen Kinderhäusern schimmern bleisilbern. Seit 15 Jahren bieten diese beiden Häuser, die ersten, die wir im Kinderdorf Mahagedara gebaut haben, so vielen Kindern Schutz, geben ihnen vorübergehend Heimat. Ich versuche mich an die ersten Mädchen im Greenstar, das damals noch Sunshine Haus genannt wurde, zu erinnern: Sandamali, Gimsha, Teena, Banti, Piumi … Fast alle sind verheiratet, haben selbst Kinder, ab und zu melden sich einige, andere sind gegangen, ich habe nie mehr von ihnen gehört und trage doch ihr Bild, viele Erinnerungen in mir, die ich mit niemand teilen kann. Betreuerinnen sind gekommen und gegangen, Bandula, mit dem ich hier begonnen habe, wurde im Jahr 2005 ermordet. In diesen nächtlichen Stunden, wenn die Gedanken zurückgehen in eine Zeit, die so unendlich weit weg erscheint, wie vermisse ich es da mit ihm reden zu können. Als alte Männer wollten wir vom Berg oben auf diesen Ort für Kinder runterschauen und, wie das alte Männer so tun, die guten alten Zeiten wieder lebendig werden lassen. „Weißt du noch, damals als wir so gut wie nichts hatten, nur den Willen was zu bewegen?“ Was würde ich dafür geben, wenn mir wenigstens sein Geist heute Nacht Gesellschaft leisten würde? Doch ich bleibe allein mit meinen Gedanken.
Genau hier saß ich auch damals vor so vielen Jahren, als das erste Mal eine Mutter aus dem Nichts aufgetaucht war und ihre Tochter für sich beanspruchte. Damals wie heute habe ich auf das Haus runtergeschaut, in dem dieses Kind schlief, friedlich, beschützt, das letzte Mal. Nichts würde mehr so sein wie heute, ging mir damals durch den Kopf, denn morgen wird dieses Kind, das mir ans Herz gewachsen war, irgendwo da draußen sein, mit einer Mutter, die ihren Besitz einfordert ohne auch nur einen Moment darüber nachzudenken, was  das  Kind möchte. Abwägen, was für das Kind gut ist, das haben auch später selten Eltern, Verwandte getan, die eines der Little Smile Kinder zurückforderten. Und oft, sehr oft, war für diese von hier weggerissenen Kinder damit die Kindheit zu Ende.
Lange ist die Liste der Kinder, die uns so vor der Zeit entrissen wurden, nur selten habe ich den Kampf um und für sie gewonnen. Man lächelt dann zum Abschied, während das Herz weint.
Und oft, viel zu oft, wurden die Befürchtungen wahr. Die 12jährige Tänzerin, die, kaum war sie von der Mutter weggebracht, vergewaltigt wurde, die 14jährige, die, vom Vater nicht zurückgebracht, wenige Wochen später schwanger wurde. Nicht immer waren die Fälle so spektakulär, aber oft, viel zu oft, landen diese Kinder wieder in Armut und Gewalt, Mädchen wurden viel zu früh schwanger, zwangsverheiratet, verlassen, Jungs hingen rum, benutzten Drogen.
Und dann diejenigen, die nach der Schule gegangen sind, voller Hoffnungen und Vorfreude auf die Freiheit draußen, die so verlockend und doch oft trügerisch in den schützenden Mauern von Little Smile so erstrebenswert erschien.
Viele der Kinder besuchen uns, Jahre später, manchmal auch nur, um ihr Bankbuch abzuholen, das sie erst mit 18 Jahren bekommen. Und so erfahren wir, wie es ihnen ergangen ist, nach Little Smile und ob wir genug Zeit hatten sie auf ein Leben da draußen vorzubereiten, sie stark zu machen und selbstbewusst.
Nicht immer erfüllten sich meine Hoffnungen, leider allzu oft meine Befürchtungen.
Auch morgen wieder wird ein Kind „abgeholt“, muss gehen, ob es nun will oder nicht. Nach acht Jahren kam die Mutter aus Saudi-Arabien zurück, uns wurde damals bei der Aufnahme gesagt, die Mutter sei tot. Damals war das Mädchen gerade mal sechs Jahre jung, nun ist sie 14, ein gefährliches Alter für ein Mädchen in Sri Lanka. Ich habe versucht zu erklären, der Mutter klar zu machen, dass sie langsam eine Beziehung aufbauen sollte und ihrer Tochter die Chance geben sollte, die Schule zu beenden. „My Baby, my Baby“ so die Antwort, unterstrichen von theatralischen Tränen. Wenn der Mond hinter dem Berg verschwunden ist, diese friedliche Nacht einem neuen Tag weicht, dann wird also dieses Baby, das so gar kein Baby mehr ist, weggehen mit einer Frau, die sie nicht kennt, in eine Welt, in der ich sie nicht mehr beschützen kann.
Klar, Kinder sind ein Geschenk auf Zeit und die vergeht so schnell. Aber habe ich die Zeit, die meinen eigenen Kindern gehören sollte, nicht weggegeben, um sie diesen Kindern hier zu schenken. Meine Söhne in Deutschland sind erwachsen geworden, auch der Kleine hat seinen Führerschein gemacht und das passt so gar nicht zu meiner Erinnerung, die irgendwie stehen geblieben ist, als er noch ein kleiner Junge war. Bootfahren auf der Altmühl, dem kleinen Fluss in der alten Heimat, gemeinsam am Lagerfeuer sitzen, Geschichten erzählen, denen er mit großen Augen lauscht. Vorbei, einfach vorbei, unwiederbringbar. 15 Jahre! So viele Kinder sind gekommen und gegangen, am Ende war Blut halt doch dicker als Wasser.
Ist es ein Trost, dass ich vielen von ihnen die verlorene Kindheit zurückgegeben habe, wenigstens für einige Zeit, dass sie etwas lernen durften,  sie wenigstens in Little Smile erleben durften, dass sie nicht Besitz sind, sondern Rechte haben. Die Kinder haben viele Tricks entwickelt, wie sie einen Moment mit mir ergattern können, doch was immer ich auch tue, am Ende ist es zu wenig und eines Tages werden sie weggehen, oft wird sich ihre Spur verlieren.
Warum schmerzt der Abschied von jedem einzelnen Kind, warum tut mir das immer noch weh, sogar dann, wenn man sie Menschen übergeben kann, die sich kümmern werden?
Als Lokuthatha, als großer Vater für so viele Kinder muss man lernen loszulassen, immer und immer wieder. Keines dieser Kinder wird da sein, wenn man krank ist, eines Tages vielleicht Hilfe braucht. Man wird alt und bleibt doch festgelegt auf den immer starken, den großen Vater, wird immer mit Pubertierenden kämpfen und niemals ein Enkelkind einfach nur verwöhnen dürfen.
Ist halt doch nicht so leicht mit der Liebe, die einfach nur gibt und gar nichts zurück erwartet.
Was wirklich quält ist jedoch die Ungewissheit, Unsicherheit, in die man immer wieder gezwungen wird, Kinder abzugeben. Manche, die mit Gewalt weggenommen wurden, kamen nach Jahren zurück.

Erst letzten Sonntag ist so etwas passiert. Die junge Frau, von der Mutter vor vier Jahren aus Little Smile weggenommen, hat sich einfach nur neben mich gesetzt, meine Hand gehalten und Tränen liefen über ihre Wangen.  Nach viel Leid hat sie den Weg zurückgefunden an den einzigen Ort, wo sie je glücklich war. Und da wusste ich: Loslassen ist schwer, Abschied tut weh, aber wo wirkliche Liebe war, da wird sie immer bleiben und sei es tief in der Seele.
Ein Windstoß lässt die Palmblätter über mir wispern, trommeln, rauschen. Mich holt dieses einzigartige Geräusch zurück in die Realität. Ich blicke hoch, zahlreiche Kokosnüsse zeichnen sich dunkel gegen den hellen Mondhimmel, sie schaukeln. Besser weitergehen, wäre wirklich doof von einer Kokosnuss erschlagen zu werden nach allem, was ich in Sri Lanka überstanden habe. Der Morgen graut, in wenigen Stunden heißt es wieder einmal Abschied nehmen, loslassen, weiter lieben.