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Frohe Weihnachten

Es ist nur eine kleine Geschichte von vier Kerzen, die Vertrauen, Frieden, Liebe und Hoffnung symbolisieren. Warum sie mir gerade einen Tag vor dem Heiligen Abend in den Sinn kam? Ich saß zusammen mit einigen Betreuerinnen und wir sprachen darüber, wie wir den Häftlingen im Gefängnis von Monaragala eine Freude machen könnten? Unsere Theatergruppe und unsere Tänzerinnen hatten seit Wochen geübt, die Kinder hatten gebastelt und sich Kleider geschneidert, um sich in Engel, in Hirten, in Maria und Joseph zu verwandeln. Alle waren unheimlich aufgeregt, niemand außer mir hatte je ein Gefängnis betreten, Häftlinge sind Verlierer, sind tabu, aufgegeben, vergessen.
Schlagartig hat sich diese Einstellung für die Mitarbeiter und älteren Kinder in Little Smile geändert, als ihr „Lokuthatha“ am 17. August verhaftet und eingesperrt wurde. Nicht nur den Kindern war klar, dass ich nichts verbrochen hatte. Und doch war und blieb ich eingesperrt, bis von ganz Oben ein Machtwort gesprochen wurde und ich auf freien Fuß kam. Nach vier sehr schweren Monaten voller Anschuldigungen, Bedrohungen und vieler Termine vor Gericht war ich am 17. Dezember, also genau 4 Monate nach meiner Verhaftung endgültig von allen Vorwürfen frei gesprochen worden. Und doch war nichts mehr so wie es vorher war, auch nicht die Einstellung meiner Kinder und Mitarbeiter zu Gefangenen. Immer wieder hatte ich Ihnen von traurigen, manchmal sogar dramatischen Schicksalen berichtet. Wenn ich über das Gefängnis sprach, über meine Wut und Trauer dort, all die Bitterkeit und dieses Festklammern an jeden Funken Hoffnung, dann hingen die Kinder an meinen Lippen, wollten wissen, warum man auch unschuldig eingesperrt sein kann und wie man das aushält? Washante, der junge buddhistische Mönch, unschuldig zu acht Jahren verurteilt, Nishante, der Einbeinige, der schon seit 5 Jahren in der winzigen Zelle ausharrt… Die Kinder kannten bereits Namen, Geschichten, nun konnten einige von Ihnen mit eigenen Augen sehen, selbst erleben, wie Menschen hinter Gittern leben, überleben.
Es war sehr ruhig im Bus, als wir die 60 Kilometer vom Kinderdorf zum Gefängnis fuhren, um aus unserer Welt, wenigstens für den „Heiligen Abend“ ein Lächeln in die Welt hinter Gittern zu bringen. Es war bereits mein dritter Besuch seit meiner Freilassung Ende August, doch für alle Anderen war es das erste Mal:
Das schwere Tor öffnet sich, man betritt eine verborgene, ja verbotene Welt, von der man zwar weiß, aber mit der man NICHTS zu tun haben will. Doch wir wollten etwas mit den Menschen hier zu tun haben. Trotzdem, Saradha, die junge Betreuerin zitterte, als die massive Türe sich mit einem dumpfen Schlag hinter uns schloss.
Die Wärter zeigten ein freundliches Gesicht aber die beiden Gefangen kamen mit einem Strahlen auf mich zu, schüttelten meine Hand, immer und immer wieder. Ein strenger Blick eines Wärters brachte sie dann doch zurück in die Realität, die aber anders war, jetzt wo ich hier war. Ich war einer der Ihren gewesen und schämte mich nicht, versteckte dies nicht und vergaß sie nicht.

Es gibt diese unsichtbare Mauer zwischen den Häftlingen und denen, die wieder gehen können, den Freien. Ich aber bin wie ein Wesen dazwischen, kann zwar gehen, aber irgendwas von mir wird immer hier bleiben. Dieses IRGENDWAS hat ich heute am Heiligen Abend 2010 auch hergeführt: Es ist gewachsen aus diesem gemeinsamen Leid, diesem zusammen eingepfercht zu sein, weitgehend entrechtet, voll von stummer, hilfloser Wut, auf dem schmerzhaften Weg hin zu Resignation. „Lehne dich nicht auf, werde nicht wütend“, hat mir unser Zellenältester geraten und er hat mir damit die wohl wichtigste Regel für ein Überleben hinter Gittern gegeben.
Und nun stehe ich auf der anderen Seite, schaue mit einigen Kindern und der Betreuerin Bawani durch die schwarzen Gitterstäbe in den winzigen Raum, in dem der Gefangene 2106 sich am 18. August, zusammen mit 12 anderen Häftlingen auf den Boden kauerte. Bawani wollte sich damals für mich opfern, war bereit gewesen, sich selbst falsch zu beschuldigen damit ich frei komme. Sie wäre vermutlich immer noch eingesperrt, eine tamilische Witwe hat in diesem Land keine Lobby. Doch Wahrheit muss Wahrheit bleiben, also habe ich dieses Angebot entschieden abgelehnt. Ich denke an meine Sohn Manuel, der mich jeden Tag im Gefängnis besuchen kam, der meine einzige Verbindung war zur Welt draußen und meine Hoffnung in dieser dunklen Zeit. Frohe Weihnachten Manuel, wo immer du auch feiern wirst.

In der kleinen Krankenabteilung ziehen sich die Kinder um, verwandeln sich in Hirten, Engel, Tänzerinnen, die Mutter Maria und Joseph, in den herzlosen Herbergsvater und all die anderen Gestalten, die zu einem vielfältigen Weihnachtsspiel dazugehören. Anton und Kasun haben die Anlage installiert, Sterne und Weihnachtsschmuck aufgehängt, 612 Gefangene hocken im Sand vor der provisorischen Bühne, die Sonne versteckt sich gnädig hinter dicken Wolken, es hat trotzdem noch 36 Grad.
Alles wäre bereit nur leider ist wieder mal der Strom ausgefallen. Klar, ein Gefängnis hat einen Generator nur leider sei der seit Jahren kaputt, also bleibt nur Warten.
Doch was spielt die Zeit schon für eine Rolle an einem Ort, wo Menschen auf den einen Moment warten, der oft noch Jahre entfernt oder gänzlich im Ungewissen liegt, der Augenblick der Freiheit.
Irgendwann ist der Strom da, eröffnen Damith, Buddiga, Amile und Lahiru als Nikolaus verkleidet das umfangreiche Weihnachtsprogramm, mit dem die Kinder von Little Smile hier, trotz Hitze und Gefängnismauern etwas von dem verbreiten wollen, was Weihnachen ausmacht. Aber was ist das genau, wenn man seit Jahren hier lebendig begraben ist, wenn man nie Besuch bekommt, sich die Familie draußen längst losgesagt und aus dem Staub gemacht hat? Was kann für solche Menschen Weinachten bedeuten?

Es ist diese kleine Geschichte der 4 Kerzen, die ich diesen Menschen erzählen möchte. Gestern am Abend haben wir noch schnell die vier Begriffe auf Papier gemalt: Vertrauen – Friede – Liebe – Hoffnung. Je ein Kind trägt ein Schild, daneben ein anderes Kind mit einer brennenden Kerze. Ich rufe das Vertrauen, Anita trägt das Schild: „Wie oft wird in unserem Leben das Vertrauen enttäuscht, wie oft haben auch wir Anderen angelogen, betrogen?“ rufe ich Gefangenen und Wächtern zu. „Wo die Lüge sich breitmacht muss das Licht des Vertrauens erlöschen“, fahre ich fort und Anita bläst die Kerze aus.
Nun ist Rebekka an der Reihe, sie trägt Kerze und Schild des Friedens.
“Der Friede braucht Vertrauen. Aber da das Vertrauen erloschen ist, steht auch der Frieden auf wackligen Beinen, kann keinen Bestand haben.“ Rebekka löscht ihre Kerze.
“Was ist mit der Liebe?“ Immer näher kommen wir zu der ersten Reihe der sitzenden Gefangenen. Madushani kommt auf einen Wink von mir von der Bühne geklettert.
„Wo weder Vertrauen noch Frieden ist, wie soll da Liebe wachsen?“ Demonstrativ will Madushani die Kerze ausblasen, ein Windzug ist schneller.
Jetzt hat der kleine Robin seinen großen Auftritt. Ich bin jetzt mitten unter den Häftlingen, frage einen nach dem anderen. „Was hast du hier, wo es weder Vertrauen noch Frieden und wohl kaum Liebe gibt? Was ist dir geblieben hier hinter Gittern?“ Die
Angesprochenen sind verwirrt, wann hat man sie zum letzten Mal nach ihrer Meinung, gar nach ihren Gefühlen gefragt? „Was lässt dich hier aushalten, Tag für Tag, Woche für Woche, Monat für Monat?“ bohre ich nach. Und dann rufe ich Robins Stichwort in den Nachmittag dieses 24. Dezembers 2010: „Die Hoffnung!“
„Es ist die Hoffnung, die uns auch schlimme Zeiten überstehen lässt. Solange wir die Hoffnung nicht aufgeben, so lange geben wir uns selber nicht auf. Wer die Hoffnung bewahrt kann eines Tages auch wieder das Vertrauen finden, den Frieden mit sich selbst und mit Anderen und die Liebe!“ Robin zündet die Kerzen von Madushani, von Rebekka und Anita an. Sogar das Lärmen hinter der Bühne wo für das Abendessen gekocht wird, ist verstummt. „Es ist immer Hoffnung!“ Ich packe Robin und ziehe ihn durch die Reihen der Gefangenen.
In einem Winkel habe ich Ariapale entdeckt. Er ist seit fast 4 Jahren eingesperrt weil er Schulden in Höhe von umgerechnet knapp 80 Euro nicht bezahlen kann. Ich packe den untersetzten, fast kahlköpfigen Mann am Arm und gehe mit ihm nach Vorne. „Was ist deine Hoffnung?“ will ich wissen. Ariapale deutet müde zur hohen Gefängnismauer. „Eliä – raus hier“, murmelt er. „Lauter“, fordere ich ihn auf. „Eliä, eliä!“ „Es ist immer Hoffnung“, wiederhole ich.

Ich werde für Ariapale die Strafe bezahlen, 5000 Rupien sind mein Weihnachtsgeschenk und 5000 Rupien muss er mir zurückbezahlen, jeden Monat 500.“ Ich rufe Anita mit dem Schild Vertrauen. „Kann ich dir vertrauen, wirst du mir 10 Monate lang 500 Rupien bringen?“ Ariapale nickt. „Vergiss nicht, ohne Vertrauen geht wieder alles kaputt“, gebe ich dem Mann mit auf den Weg in die Freiheit, die am Morgen des ersten Weihnachtstages für ihn beginnen wird. Niemand hat Ariapale in all den Jahren hier je lächeln sehen, nun lächelt er, ungläubig, noch unsicher. Erst als ihm der Oberaufseher zunickt und bestätigt, was ich gerade gesagt habe, packt er meine Hand und drückt sie auf sein Gesicht. Ich spüre seine Tränen.
„Frohe Weihnachten“, flüstere ich ihm ins Ohr, um es dann allen Menschen hier und anderswo - überall -zuzurufen: „Frohe Weihnachten!“